Warum ist es so wichtig, dass sich aus “hochmotivierten Individuen” (Agiles Manifest) ein echtes Ensemble formt? Dieser Beitrag ist für alle, die nach Wegen suchen, mit ihrem Team kreative Höchstleistungen zu vollbringen.
Ende 2014 war mir zum Feiern zumute. Ich hatte bereits sechs Monate an meiner Master-Arbeit geschrieben und sie stand kurz vor der Abgabe. Gleichzeitig machte sich latente Existenzangst breit. Was mache ich eigentlich nach der Abgabe? Mein sozialwissenschaftliches Studium habe ich mir zuvor größtenteils als Wellnessmasseur sowie durch ein paar Improtheater-Auftritte und Workshops finanziert. Um mich voll fokussieren zu können, hatte ich für die Zeit des Schreibens alle Planspiele für meine berufliche Zukunft auf Eis gelegt und insbesondere meine Massage-Kunden vernachlässigt. Am Tag der Abgabe kam mir plötzlich eine Idee.
Die Vision und der große Plan
Inspiriert von Airbnb, Uber & Co war die Idee zunächst vielmehr ein Tagtraum: Wäre es nicht super. wenn ich jetzt einfach einen Schalter umlegen könnte und die Welt würde wissen, dass ich, Jacob der Massagetherapeut, wieder verfügbar und buchbar bin? Ich erzählte Freunden und Bekannten von der Vision und fragte: Was hältst du davon, eine App zu haben, mit der du schnell und unkompliziert die beste und passendste Massagebehandlung in deiner Nähe buchen kannst? Die Idee begeisterte. Man legte mir nahe einen Businessplan zu schreiben. Zumindest das “Schreiben” klang irgendwie gut. Immerhin hatte ich eine tägliche Routine entwickelt, jeden morgen meinen Laptop in die Bibliothek zu tragen.
Von einem Business-Plan hatte ich aber ebenso wenig Ahnung wie davon, eine nutzerfreundliche App zu programmieren, geschweige denn wie man ein skalierbares Unternehmen gründet. Mir wurde schnell bewusst, dass ich das Ganze niemals alleine umsetzen könnte. Nach einer monatelangen Suche hatten wir dann ein Team zusammen. Aus einer fixen Idee wurde mysseur.
Der Weg zum Product-Launch und den ersten Massagebuchungen war steinig und gepflastert von vielen internen Auseinandersetzungen um die besten Lösungen. Es dauerte anderthalb Jahre den großen Plan umzusetzen. Unterwegs tauchten direkte Wettbewerber auf, die eine schlankere Strategie verfolgten und vor allem mehr Ressourcen zur Verfügung hatten. Wir haben viele Fehler gemacht. Anders ausgedrückt wir haben in diesen rund achtzehn Monaten viel gelernt. Leider war es zu spät daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Stattdessen machten wir uns meistens gegenseitig Vorwürfe und stagnierten in unserer Entwicklung. Schließlich wurde deutlich, dass unser Produkt nicht überlebensfähig war.
Lessons learned: Komplexe Produkte erfordern agiles Projektmanagement
Wir sind gescheitert. Allein diesen Satz zu schreiben, tut heute noch weh. Die Entwicklung eines Software-Produkts ist eine komplexe Angelegenheit. Es müssen Features mit den Kunden abgestimmt und priorisiert sowie Abhängigkeiten identifiziert werden. Hinzu kommen ständig neue Anforderungen, weil man etwas nicht bedacht hat, die Kundenwünsche sich verändern oder sich der technologische Standard schon längst weiterentwickelt hat. Um der Komplexität neuer Anforderungen und einem erhöhten Innovationsdruck gerecht zu werden, möchten sich im Zuge der digitalen Transformation immer mehr Organisationen agil aufstellen. Auch wir wollten das.
Agilität heißt im Grunde, dass Ideen bzw. Teile einer Idee fernab des Elfenbeinturms so schnell wie möglich entwickelt, umgesetzt und getestet werden. Statt anderthalb Jahre auf einen Product-Launch hinzuarbeiten, hätten wir viel früher herausfinden können, ob wir uns mit dem einen oder anderen Feature auf dem Holzweg befinden. Die Theorie kannten wir. Was uns fehlte, war die Erfahrung, Ressourcen und vor allem das nötige Mindset.
Was würde ich heute anders machen?
Aus mangelnder Erfahrung bin ich davon ausgegangen, dass erfolgreiche Unternehmen einen visionären Gründer haben müssen, der zwar nicht beratungsresistent ist, aber am Ende seine Ideen durchsetzt. Ich bin dem narzisstischen Trugschluss aufgesessen, dass es im Big Business initial einen Leader
mit einem großen Plan geben muss, der dann nur noch befolgt wird. Ziemlich Banane! Dabei habe ich in einem ganz anderen Kontext, einem künstlerischen, gelernt, dass Produktentwicklung sogar ganz ohne Plan und Chef funktionieren kann und dabei umso näher am Kunden ist.
Ich spiele seit 2009 professionelles Improvisationstheater. Das ist zunächst einmal nichts anderes als Theater, nur dass es keinen vorgeschriebenen Text gibt. Die Geschichte entsteht live auf der Bühne - als Co-Produktion von Publikum und Spielern. Viele Menschen fragen sich, wie es guten Improtheater-Ensembles gelingt, ohne Skript und Regisseur ad hoc spannende Geschichten mit lebendigen Charakteren zu erzählen. Vor zehn Jahren begann ich mit dem Improvisionäre-Ensemble zu forschen. Wir erprobten die Prinzipien unseres “Produkts”, einer gemeinsam improvisierten Geschichte.
Das Yes-And-Prinzip
Die Theorie ist schnell erklärt: Improvisationstheater funktioniert nur, wenn Ideen dem gesamten Ensemble gehören und tatsächlich zusammen entwickelt werden. Das übergeordnete und wichtigste Prinzip ist das spielerische Ja-Sagen. Damit ist gemeint, dass ich als Spieler alle Spielangebote von Außen annehme (Yes) und weiterentwickle (And), selbst wenn ich meine, eine bessere Idee gehabt zu haben. Das Ego wird gezügelt. Kommt auf der Bühne zum Beispiel ein Mitspieler auf mich zu, zeigt in die Luft und sagt, “Schau mal, wie schön dieser Baum ist!”, sage ich nicht, “Das ist doch aber eine Laterne!”, sondern idealerweise “Ja. Er trägt wirklich große Äpfel dieses Jahr!”. Bei der letzteren Variante geht die Geschichte weiter, während beim spielerischen Nein der kreative Flow durchbrochen wird.
Manch einer wird jetzt denken, was das mit der eigenen Arbeitsrealität zu tun hat. Brauchen wir nicht manchmal durchsetzungsstarke Experten, die mit der Laterne Licht ins Dunkel bringen, und ungeeignete Vorschläge ausknipsen? An dieser Stelle nur so viel: Zumindest wir, als Improvisionäre-Ensemble, fahren ohne diesen Experten ganz gut.
Das Improtheater bietet viele Möglichkeiten kreatives Denken und Handeln zu fördern und dabei das Team in den Mittelpunkt zu stellen. Seit der verpassten Chance im Zuge Gründungserfahrung mit mysseur, möchte ich die Prinzipien des Improtheaters in die Büroetagen der modernen Arbeitswelt tragen und agile Teams dabei unterstützen, selbstorganisiert großartige Geschichten zu schreiben.
Dies war die erste Episode einer Serie “Improvisation & Agilität”. Ihr habt das Yes-And-Prinzip kennengelernt, nachdem Ideen konsequent angenommen und weiterentwickelt werden. In der nächsten Episode erfahrt ihr, warum Assoziationsketten ein optimaler Test für die Offenheit in Teams sind.
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Martin Schlicht (Donnerstag, 06 August 2020 23:12)
Ein wunderschöner Gedanke das Du Impro so beschreibstb "Dabei habe ich in einem ganz anderen Kontext, einem künstlerischen, gelernt, dass Produktentwicklung sogar ganz ohne Plan und Chef funktionieren kann und dabei umso näher am Kunden ist." Danke für das GFK & Storytelling Meetup letztens!